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Industriegeschichte in Oberösterreich

Publikationen

 

Otto Lackinger

Rede von em Univ. Prof Dr. Roman Sandgruber zur Buchpräsentation
„Die Industrie in Oberösterreich in der Ersten Republik 1918 - 1938“

Otto Lackinger, geb. 1924 in Linz
Foto: Otto Lackinger, geboren 1924 in Linz. Bildquelle: privat.
Otto Lackinger ist nicht nur eine Persönlichkeit, die über Jahrzehnte hinweg als Berater und Forscher die Politik maßgeblich beraten und damit auch beeinflusst hat, sondern er ist auch für mich eine Persönlichkeit, die immer wieder mit Informationen, Rat und auch korrigierenden Hinweisen zur Stelle war und ist: Ein Kollege und ein Freund, mit dem es ein Vergnügen ist, wissenschaftlich und privat zu kommunizieren.

Wer würde ihm die 93 Jahre ansehen? Und wer würde mit 93 Jahren noch ein Buch präsentieren, und dabei nicht irgendwelche Aphorismen, sondern harte Daten, die nur in ebenso harter Kleinarbeit zu gewinnen sind. Otto Lackinger ist ein unermüdlicher Wissenschafter und, wie es sich für einen Statistiker gehört, ein genauer Arbeiter, dabei aber eine ungemein hilfsbereite und kommunikative Persönlichkeit, die stets auch auf die Anwendung und Umsetzung seiner Ergebnisse bedacht war und ist. Eben kein Wissenschafter im Elfenbeinturm.

Otto Lackinger: geboren am 16. Dezember 1924 in Linz, 1936 bis 1942 humanistisches Gymnasium in Linz, dann Militärdienst an der Ostfront, bis 1948 in vierjähriger sowjetischer Gefangenschaft in Sibirien, zwischen 1948 und 1952 Studium der Geographie und Geschichte in Innsbruck, 1952/53 Probejahr in Linz, dann Arbeit an der Dissertation über die Verstädterung und Suburbanisierung im oberösterreichischen Zentralraum, ein Begriff, der von Lackinger geprägt wurde (Die Veränderung der Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur des Bezirkes Linz-Land 1934-1954). Nebenbei absolvierte er auch die akademische Übersetzerprüfung für Russisch, das er in der langen Gefangenschaft zwangsweise erlernt hatte. Nach seiner Promotion zum Doktor der Philosophie wurde er 1955 wegen seiner profunden Kenntnisse zur Siedlungsentwicklung und Suburbanisierung in den oberösterreichischen Landesdienst aufgenommen und arbeitete zuerst in der Raumordnung und Landesstatistik. 1956 legte er die Staatsprüfung für den gehobenen statistischen Dienst ab. 1967 wurde er zum Leiter des neu eingerichteten Statistischen Dienstes der Oberösterreichischen Landesregierung bestellt. Dort erwarb er sich sowohl als Praktiker in der Politikberatung und Informationsbeschaffung wie auch als Wissenschaftler im Bereich der empirischen Statistik großes Ansehen. Mit der Verleihung des Titels Honorarprofessor für Demographie an der Hochschule für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften in Linz im Jahre 1971 fand seine wissenschaftliche Kompetenz eine verdiente Würdigung.
Zwischen 1974 und 1992 fungierte Lackinger auch als Geschäftsführer des Instituts für Raumordnung und Umweltgestaltung (IRU) an der Universität Linz, das vom Land Oberösterreich und den Kammern getragen wurde. Und zwischen 1971 und 1993 war er zudem Geschäftsführer der Wirtschaftswissenschaftlichen Gesellschaft für Oberösterreich, die jährlich wissenschaftliche Symposien gestaltete.

Lackinger Otto: Die Industrie in Oberösterreich in der Ersten Republik 1918–1938
Foto: v.li. n. r. Univ. Prof Dr. Roman Sandgruber, Monika Ratzenböck (Tochter Dr. Lackinger), Altlandeshauptmann Dr. Josef Ratzenböck, Prof. Dr. Otto Lackinger (Autor), Landeshauptmann Mag. Thomas Stelzer, Direktorin des OÖ Landesarchivs Cornelia Sulzbacher, Bgm. Daniela Durstberger (Lichtenberg) freuen sich mit dem Autor über das neu erschiene einzigartige wissenschaftliche Werk „Die Industrie in Oberösterreich in der Ersten Republik 1918 - 1938“. Bildquelle: OÖ Landesarchiv
Etwa 200 wissenschaftliche Veröffentlichungen, dazu vieles, für das er als Ghostwriter verantwortlich war, und zahlreiche Beiträge in Tageszeitungen und Vorträge sind das Resultat seiner wissenschaftlichen Arbeit. Statistik, Demographie, Wirtschaftswissenschaften, Wirtschaftsgeographie und Wirtschaftsgeschichte sind die fachübergreifenden Disziplinen seiner wissenschaftlichen Arbeit. Als wesentliche Erkenntnisse sind hervorzuheben: Der Begriff „Oberösterreichischer Zentralraum“, der einem heute so selbstverständlich vorkommt, ferner die Analyse der Wanderungs- und Suburbanisierungsprozesse in Oberösterreich, die Pendlerproblematik, die Beschäftigung mit Themen wie Dienstleistungsgesellschaft, Altersstruktur, Religionszugehörigkeit, Energiesituation, Milchmarkt, und vor allem mit den neuen Methoden der Wahlprognose und Hochrechnung von Wahlergebnissen bereits am Wahltag, was ihn 1967 zu einem wesentlichen Hintergrundakteur in politischen Entscheidungen machte.

Nach seiner Pensionierung im Jahre 1984 stellte sich Otto Lackinger ganz in den Dienst der wirtschaftshistorischen Forschung, die er schon bei seinem Studium der Geschichte und Geographie einst begonnen hatte. Drei wichtige Bücher sind das Resultat dieser Arbeit: 1997 die viel beachtete Monographie „50 Jahre Industrialisierung in Oberösterreich, 1938 – 1988, 1945-1995“. Darauf folgte eine Industriegeschichte der Stadt Linz, und nun liegt die Industriegeschichte Oberösterreichs in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen vor.
Das zentrale Ergebnis aller drei Bücher ist das Aufräumen mit dem Mythos, dass Oberösterreichs Industrialisierung ein Produkt der NS-Gründungen sei. Möglich war ihm dies durch die genaue Erarbeitung der einzelnen Wellen der oberösterreichischen Industriegründungen.
Ausschlaggebend war dafür nicht nur die wissenschaftliche Gründlichkeit im Detail, sondern auch die Zusammenschau und damit ein Zurechtrücken der Einschätzung der industriellen Entwicklung des Landes Oberösterreich und der Stadt Linz.
Solche Arbeiten werden umso wichtiger, je mehr das Interesse der Wirtschaftswissenschaften an empirischer Forschung zurückgeht, vor allem an der empirischen Regionalforschung, und je mehr die zunehmende Formalisierung und Mathematisierung der Volkswirtschaftslehre voranschreitet. Gegen einen solchen Rückzug in einen Elfenbeinturm der Theorie hat Lackinger ein Leben lang angekämpft.
Otto Lackinger hat das umfangreiche Datenmaterial zur Industriestatistik, das die amtliche und halbamtliche Statistik anbietet, zum Teil völlig neu erschlossen, umfassend ausgewertet und einer kritischen Hinterfragung, Neiordnung und Bewertung unterzogen.
Dafür war die genaue Neudefinition dessen notwendig, was unter Industrie zu verstehen ist. Nach diesen Kriterien erfolgte die Auswertung der Daten der Gebietskrankenkasse, der Beschäftigten-Daten der Kammer für Arbeiter und Angestellte, der Unterlagen der Wirtschaftskammer, der Landesregierung und jener der amtlichen Zählungen der Statistik Austria.
Die Gliederung und Periodisierung im Zeitverlauf ist vorgegeben. Nach dem Rüstungsboom des Ersten der Tiefpunkt 1919, die Scheinkonjunktur der Inflationsjahre 1920-22, die Stabilisierungs- und Spekulationskrise 1923/24, der spektakuläre Produktionsanstieg 1925-29, der tiefe Fall in der Weltwirtschaftskrise und die schon vor dem Anschluss beginnende Neuformierung, zuletzt der Status im Jahr 1938.
Lackinger sammelte minutiös die Daten für einzelne wichtige Betriebe und gliederte sie nach seinen Kriterien. Damit kommt das Jahr 1929 als bislang unterschätzter, aber herausragender Meilenstein klarer zu Tage. 1929 zählte das Land einen Großbetrieb (Steyr, mit 6.600 Beschäftigten), vier Betriebe mit mehr als 1000 Beschäftigten (Wolfsegg-Traunthaler, Kleinmünchner, Steyrermühl, Tabakfabrik), 40 Großbetriebe aus nationaler Sicht und weitere 103 Betriebe mittlerer Größe. Die Standorte waren Steyr und Linz, dann Wels, Traun, Ampflwang, Ebensee, Laakirchen, Altmünster, Garsten, Mattighofen und einzelne Inseln.
Auf dieser Basis zeichnet er die langfristigen Entwicklungslinien der Industrialisierung des Bundeslandes nach. Er bleibt aber nicht bei einer Industriegeschichte stehen, sondern liefert eine Geschichte der gesamten Wirtschaft des Landes, pointiert, sich nicht um ein eigenes Urteil herumdrückend, aber immer streng den Daten entlang.
Lackinger ist es zu danken, dass er sehr energisch mit jenem Märchen eines durch den Anschluss Österreichs an Deutschland im Jahre 1938 und durch die nationalsozialistische Wirtschaftspolitik initiierten oberösterreichischen Wirtschaftswunders aufräumt. Er ist zwar nicht der einzige, der kritisch darauf hinweist, dass das Jahr 1938 nicht jener tiefe Einschnitt war, der Oberösterreich zu einem modernen Industrieland gemacht hat. Aber er war einer der ersten, und er hat es mit exakten Daten untermauert.

Im Laufe der Forschungen kam er zu dem Schluss, dass Oberösterreich 1938 zwar noch kein Industrieland war, aber die Basis dafür längst gelegt war, und dass im Jahr 1945 sehr viel grundlegendere und langfristig viel bedeutendere Entscheidungen getroffen wurden als 1938 und dass das Jahr 1995 mit dem EU-Beitritt ebenfalls eine wesentlich tiefgreifendere Periodengrenze darstellt, auch wenn das Jahr 1988, das sich nur aus der runden Gleichsetzung mit 1938 ergibt, sicherlich einen Schlusspunkt darstellt, wo 1989 mit Ostöffnung und auch Neuordnung der einst Verstaatlichten Industrie die Weichen umgestellt wurden. So entstand der merkwürdige und fürs erste etwas irritierende Titel seines ersten Buches mit den zwei 50-Jahr-Perioden, einerseits 1945 bis 1995 und dazu die in Klammer gesetzte 1938 bis 1988.

Die Herstellung der Vergleichbarkeit der Daten war wohl eines der schwierigsten Probleme und verdienstvollsten Ziele von Lackingers drei Studien. Lackinger setzt sich intensiv mit den Abgrenzungskriterien zwischen Industrie und verarbeitendem Gewerbe auseinander. Er hat die von der Arbeiterkammer Wien erstellte "Statistik der Beschäftigten in Deutsch-Österreich nach dem Stande vom 31. März 1938" für Oberösterreich ausgewertet und hat die im Archiv der Oberösterreichischen Gebietskrankenkasse erfassten Versichertenstände der einzelnen Industriebetriebe als Vergleichswerte zu den nach anderen Kriterien erstellten Betriebszählungsdaten herangezogen. Auf dieser Basis kann er einerseits einen durchaus bemerkenswerten wirtschaftlichen Aufwärtstrend in der Industrie in den letzten Jahren vor 1938 feststellen, etwa in den Steyr-Werken, in der Textilindustrie, in den Steinbrüchen oder in der Sensen- und Messerindustrie. Andererseits zeigt seine Analyse des Zustandes im Jahr 1938 die inselförmige Konzentration der Industriestandorte auf Steyr und Linz inmitten eines industriefreien, noch eindeutig landwirtschaftlich strukturierten Raums. Oberösterreichs Industrie vor 1938, so der Schluss Lackingers, war keineswegs so unbedeutend, wie dies in den meisten Publikationen und Aussagen behauptet wurde und wird. Das Jahr 1938 war mit Sicherheit nicht das Jahr Null, mit welchem die Industrialisierung Oberösterreichs einsetzte.
Insgesamt ist damit eine profunde Zusammenfassung der Industriegeschichte Oberösterreichs entstanden, von der zu hoffen ist, dass damit nicht nur die Forschung weiter befruchtet wird, sondern dass diese Erkenntnisse auch in der tagespolitischen Argumentation und in den Stammtischgesprächen zur Kenntnis genommen werden.

Zusammenfassend: Seine Genauigkeit als Statistiker, gepaart mit dem Blick aufs Wesentliche, ist das, was den Wissenschafter Lackinger auszeichnet.
Otto Lackinger ist ein hervorragender Wissenschafter, der Wissenschaft aus innerer Überzeugung und Berufung betreibt.
Otto Lackinger ist aber ein Praktiker. Ihm war immer die Anwendung und Verwertbarkeit seiner Tätigkeit ein Anliegen. Der Politikberater Lackinger, gleichzeitig ein hervorragender Kommunikator.
Sein Verdienst ist auch die Rettung wichtiger Dokumente und Archivalien, die sonst verloren gegangen wären, auch in öffentlichen Institutionen, und die er nun in seinem Privatarchiv verwaltet und immer wieder auch interessierten Studenten und Forschern zur Verfügung stellt.

Statistik ist die Wissenschaft von der Genauigkeit. Genauigkeit und Treffsicherheit, das ist Lackingers Markenzeichen, beruflich und privat. Er traf ins Ziel: ob als Eisstockschütze, oder auch in seinen Tarocktournieren.
Seine Genauigkeit, gepaart mit seiner sozialen Kompetenz, kam ihm auch in seinen Hobbies zu Hilfe: ob als Eisstockschütze oder als Schütze mit alten Vorderladepistolen, als Präsident des auf Vorderlader-Pistolen spezialisierten „Union Schützenklub Lichtenberg“, oder auch beim Tarockspiel, wo genaue Beobachtung und soziale Kompetenz gefragt ist. Lackinger trifft nicht nur, er hält auch zusammen, als Kommunikator und Freund.

All das hat ihn fit gehalten, geistig und körperlich. Dem 93 jährigen Otto Lackinger glaubt man es mit Leichtigkeit, dass er einmal oberösterreichischer Tischtennismeister und begeisterter Fußballspieler war, auch begeisterter LASK-Fan, wo er ja einiges erdulden musste, jetzt aber wieder hoffen kann.
Er hält sich fit, geistig wie körperlich, und jeder kann sich heute überzeugen, dass man ihm sein wirkliches Alter kein bisschen anmerkt. In diesem Sinne wünschen wir dem Wissenschaftler, aber vor allem auch dem Menschen und Freund Otto Lackinger alles Gute, viel Freude mit seinem Lebensabend, weiter noch Freude mit seiner wissenschaftlichen Tätigkeit, die für ihn immer mehr war als ein Hobby, sondern anstrengende und Aufmerksamkeit raubende Arbeit. Sein Fundus ist keineswegs erschöpft, und nachfolgende Wissenschafter können sich von ihm unendlich viel holen: von seinen Unterlagen, die in den Archiven der Institutionen oft längst verloren gegangen wären, von ihm aber gesichert wurden und dem Oberösterreichischen Landesarchiv übergeben wurden. Vor allem aber lernen wir von ihm menschliche Wärme, die im Wissenschafts- und Politikleben ohnehin meist zu kurz kommt. Vivat Academia, vivat Otto Lackinger!


Publikation: Die Industrie in Oberösterreich in der Ersten Republik 1918 – 1938"